Monday 12 September 2011

Das Aufbegehren der Slums: Eine Wortmeldung aus Südafrika

Richard Pithouse, Das Argument, 2010

Als einen »Wundbrand, der sich in das Innere der kolonialen Herrschaft frisst«,beschrieb Frantz Fanon die Menschen in den Armensiedlungen Afrikas, die»die verschiedenen Städte in der Hoffnung, eines Tages hineinzugelangen«,unermüdlich umkreisen (1960/1981, 110). Für ihn bildete »diese Horde von Ausgehungerten, die aus der Stammes- und Klangemeinschaft herausgerissen sind, [...] eine der spontansten und radikalsten unter den revolutionären Kräften eines kolonisierten Volkes« (ebd.). Die Kolonialherren schienen derselben Ansicht gewesen zu sein, weswegen sie diese Siedlungen meist im Namen der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit niederreißen ließen. 

Noch heute bestimmt sich die Position einer Stadt in der globalen Rangordnung wesentlich über die Effizienz, mit der es den Herrschenden gelingt, die Arbeiter/innen räumlich zu separieren, die Ausbreitung von Ghettos einzudämmen, die von Graswurzelbewegungen erkämpften Freiräume und Siedlungen zu zerstören und das unkontrollierte Eindringen von illegalisierten Einwander/innen zu unterbinden. Von Lagos über Delphi bis nach Johannesburg, überall stehen Enteignungen und Räumungen von Slumsiedlungen auf der Tagesordnung. Und überall, von Portau-Prince über La Paz bis nach Durban, wehren sich die Menschen gegen diesen Angriff. Die Hoffnung oder die Angst, dass die Städte nicht nur als Zentralen ordnungsgemäßer Machtausübung fungieren, sondern auch als Nährboden für sozialen Unmut und Widerstand, ist alles andere als neu. Dem Vagabunden sowie dem Haus- und Landbesetzer kommt hierbei seit Langem eine besondere Bedeutung zu.

In den letzten Jahren jedoch sind die Slums zu einem planetarischen (wenn auch noch nicht universellen) Phänomen geworden, mit dem sich sowohl Philosophen und NGOs als auch Militärplaner und Politiker befassen. Dabei geht der Ruf nach einer von oben durchgesetzten Ordnung von allen politischen Lagern aus. Ein Großteil der gegenwärtigen Aufmerksamkeit, die Slums als »entscheidende geopolitische Orte« (Davis 2007) erfahren, geht auf die Reaktivierung uralter Vorurteile gegenüber den städtischen Armen zurück. Dabei werden – wie bereits 1972 Alejandro Portes warnte – »soziologische oftmals mit psychologischen Realitäten verwechselt« (zit.n.Wacquant 2008, 89). Und noch heute trifft zu, was Janice Perlman vor mehr als 30 Jahren in ihrer Studie über Armut in Rio de Janeiro festgestellt hat: Auch die Linke kann sich dem Mythos der Marginalität nicht entziehen (1976, 250).

Der Blick der Metropolen-Linken

»Momentan zumindest hat Marx [in den Slums] die historische Bühne verlassen und diese an Mohammed und den Heiligen Geist abgetreten.« (Davis 2004, 30) Die Linke glänze dort weitgehend mit Abwesenheit, doch diese Feststellung war oberflächlich. Zum einen ist zu hinterfragen, ob man die Definition, was links ist, westlichen Theoretikern überlassen will. Als Davis sein Urteil fällte, tobten in vielen Armensiedlungen dieser Welt militante Kämpfe oder hatten dort ihren Ausgangspunkt. Zum anderen ist Davis’ manichäische Gegenüberstellung von religiösen und politischen Bewegungen unsinnig. Manche der an den Auseinandersetzungen Beteiligten sind religiös, andere nicht. Viele der Bewegungen sind an sich nicht religiös motiviert, sondern ihre Organisationsansätze wurzeln in sozialen Beziehungen und Techniken, die Teil populärer religiöser Praktiken sind. Schließlich resultiert Davis’ ausgeprägter Pessimismus hinsichtlich der politischen Organisierung in den Slums aus seinem problematischen methodischen Zugang. Anstatt direkt mit den Menschen zu reden, die diese Widerstandsbewegungen tragen oder ihre Texte und Stellungnahmen zur Kenntnis zu nehmen, verlässt er sich auf Quellen der Vereinten Nationen, der Weltbank, von Spendenorganisationen oder Anthropolog/innen, die Teil des imperialen Systems sind.

Zur gleichen Zeit, als Davis seinen Text zu den Slums veröffentlichte, schrieb Slavoj Žižek einen Beitrag, in dem er das explosive Wachstum der städtischen Armutssiedlungen zu 

»dem vielleicht wichtigsten geopolitischen Ereignis unserer Zeit« erklärte. Wir seien konfrontiert mit der rapiden Zunahme einer Bevölkerung, die sich außerhalb des Rechts befindet und dringend minimaler Formen der Selbstorganisation bedarf [...] Man sollte sich jedoch vor der Versuchung hüten, die Slumbewohner zum neuen revolutionären Subjekt zu erheben und zu idealisieren. Und trotzdem ist es auffällig, wie sehr sie der alten Marxschen Definition des proletarischen revolutionären Subjekts entsprechen: Sie sind im doppelten Sinne ›frei‹, ›freier‹ sogar als das klassische Proletariat (›frei‹ von allen grundlegenden Bindungen; ›frei‹, weil sie in Räumen außerhalb staatlicher Regulierung leben); sie bilden eine große Gemeinschaft von Menschen, die aus einer Zwangslage heraus einen neuen Modus des Zusammenlebens (er)finden müssen, weil sie ihrer traditionellen Lebensweisen beraubt worden sind [...] Die neuen Formen des sozialen Bewusstseins, die in diesen Slum-Gemeinschaften entstehen, sind der Keim der Zukunft. (2004, 13)

Žižeks spekulativer und gleichzeitig zaghafter Optimismus stützt sich auf keinerlei empirische Untersuchungen. Man muss ihm allerdings zugestehen, dass er zumindest prinzipiell das Denken und Handeln der Menschen in den Slums ernst nimmt. Davis’ Perspektive ist dagegen von hobbes’schen Vorstellungen geprägt. Das materielle Grauen in den städtischen Armenvierteln des globalen Südens, das er mit Verweis auf zahlreiche Studien schildert, ist allgemeiner Bestandteil der Existenz von Slumbewohner/innen. Doch ist dies nur ein Teil der Wahrheit und ihrer Lebensrealität. Diese informellen Siedlungen sind für viele Menschen eine wertvolle Ressource, die ihnen den Zugang zur Stadt und zu ihrer Infrastruktur, zu Arbeit, Ausbildung, Kultur, Sport und religiösem Leben ermöglicht. Sie können Orte eines Kosmopolitismus von unten und kultureller Innovation sein. Und das Leben ist dort, wie anderswo auch, hauptsächlich von Alltagsgewohnheiten geprägt: Die Menschen trinken zusammen Tee, kochen Abendessen, spielen Fußball, feiern Kindergeburtstage, Schüler/innen erledigen ihre Hausaufgaben oder gehen zur Chorprobe. Diese Normalität und eine gewisse Hoffnungsfreude, die man in den Siedlungen erleben kann, stehen in einem scharfen Kontrast zu apokalyptischen Berichten über die tragische Existenz im Slum. Eine grundlegende Ambivalenz kennzeichnet das Leben in diesen Siedlungen: Einerseits bedeutet die Abwesenheit des Staates Mangel an Infrastruktur und Versorgung (Wasser, Strom, Kanalisation, Müllentsorgung etc.), andererseits kann sie politische und kulturelle Autonomie ermöglichen.

Robert Neuwirth beschreibt diese Ambivalenz und zeigt, dass das Leben im Slum auch eine gewisse Attraktivität haben kann. Er zitiert Armstrong O’Brian, einen Bewohner von Southland in Nairobi: »Dieser Ort macht abhängig. Es ist ein einfaches Leben hier, aber es gibt niemanden, der Dich einengt und kontrolliert. Wenn man einmal hier gelebt hat, will man immer wieder zurück« (2005, 96). Vielleicht sind es diese Erzählungen vom Hauch der Freiheit, von denen Žižeks Optimismus inspiriert ist.

Fanon bestand noch darauf, der Slum zeuge von der »physischen Entschlossenheit des Kolonisierten, die feindliche Festung, koste es, was es wolle, [...] zu erobern« (1981, 111). Ein Großteil der gegenwärtigen Literatur hingegen präsentiert die Slumbewohner/innen als tragische Opfer der Geschichte. Auch Davis übersieht die radikale Militanz, mit der die Siedlungen häufig gegründet und verteidigt werden. Typisch hierfür ist seine Beschreibung von Soweto, »das sich von einem Vorort zu einer Satellitenstadt entwickelt hat« (2006, 44). Dabei geht Davis mit keinem Wort auf die Geschichte der Slum-Bewegung Sofasonke ein, unter deren Führung 1944 mehr als 10 000 Menschen das Land besetzten, auf dem später Soweto entstehen sollte. Neuwirth hingegen macht deutlich, dass die meisten Siedlungen das Ergebnis von Landaneignungen durch Graswurzelbewegungen sind, und er stellt dar, wie ihre Bewohner/innen die Siedlungen aktiv verteidigen und ausbauen, wozu häufig der Kampf um die Bereitstellung staatlicher Versorgungsleistungen gehört.

Die städtischen Landbesetzer/innen fordern keine abstrakten Rechte ein, sondern nehmen sich konkrete Räume. Neuwirth geht nicht naiv davon aus, dass Aneignungen »von unten« automatisch in demokratische Gemeinschaften münden. Wenn verschiedene Gründe die Menschen in die Städte drängen, und wenn der Kosmopolitismus so vieler Slums sie unwiederbringlich von traditionellen Formen der individuellen und kollektiven Lebensführung entfernt, dann gibt es keine Garantie dafür, dass die neu entstehenden sozialen Beziehungen und Ordnungen einen progressiven Charakter annehmen. So ist die indische Shiv Sena – eine hindu-nationalistische Bewegung, die zuerst in den Slums von Mumbai groß geworden ist – nur ein Beispiel für eine zutiefst reaktionäre Antwort auf die Anforderung, neue Formen des Zusammenlebens entwickeln zu müssen. Menschen treffen Entscheidungen, sie führen spezifische Kämpfe, und dementsprechend fallen die Ergebnisse auch unterschiedlich aus, so Neuwirths nüchterne Schlussfolgerung. So werden zahlreiche Armenviertel von »Slumlords« verschiedenster Provenienz beherrscht. Aber dies ist keine Zwangsläufigkeit und rechtfertigt nicht Davis’ Pessimismus. Formen von Gemeineigentum und lokale Demokratie sind ebenso möglich, und es gibt hierfür eine Reihe positiver Beispiele.

Kämpfe in Südafrika

In Südafrika sind die städtischen Armensiedlungen beides: Stätten progressiver und reaktionärer Strömungen. Eine strukturelle Arbeitsmarktkrise, die gut 40 Prozent der Bevölkerung permanent von regulärer Beschäftigung ausschließt, sowie rasant angestiegene Lebensmittelpreise und Transportkosten haben die prekäre Lage der Armen seit den 1990er Jahren weiter verschärft. Und obwohl die Menschen unter diesen Umständen neue Formen der Solidarität und des kollektiven Miteinanders entwickeln, um ihr Überleben zu sichern, hat die Verzweiflung inzwischen ein gefährliches Ausmaß angenommen. Die Aussicht, niemals eine zum Leben ausreichende Arbeit zu finden, ist kaum mit Gleichmut zu ertragen.

Grundrechte haben auch mit dem Zugang zu Raum zu tun. Das offizielle Ziel, in die Klasse der »World Cities« aufzusteigen, rechtfertigt vielerorts die Vertreibung der Armen aus den Innenstadtvierteln und macht die seit den 1980er Jahren betriebene Desegregation der Städte wieder rückgängig. Ein staatliches Programm sieht den fast vollständigen Abriss zentral gelegener Hüttensiedlungen bis 2014 vor. Die Projekte zur Modernisierung von städtischen Slums sind Ausnahmen. Indem die Armen aus ihren Vierteln vertrieben werden, wollen sich die Regierenden eines selbstbewussten urbanen Proletariats entledigen, das oftmals über eine gewisse Autonomie und einen starken Gemeinschafts- und Kampfsinn verfügt. Arbeiter/innen werden zu individualisierten Konsumenten und »Hausbesitzern« an der urbanen Peripherie gemacht. Die Rückkehr zu gewalttätigen Vertreibungen stellt einen direkten Angriff auf die Existenz dieser Menschen dar, auf ihr Recht, ihre Stimme zu erheben und gehört zu werden, ihre eigene Zukunft mitzubestimmen, auf ihren Wunsch nach städtischem Leben und auf ihre Identität als Bürger/innen.2 Trotz eines inzwischen mehrjährigen erbitterten Kampfes der Slumbewohner gegen Stadträte, lokale Parteivertreter und Bezirksausschüsse wird das Thema Vertreibung von den politischen Eliten weiterhin ignoriert. Auch der Zivilgesellschaft fällt es schwer zu begreifen, dass es beim demokratischen Aufbau nicht nur um Wahlen und gut funktionierende NGOs geht. Viele Menschen, die sich in den Kämpfen der 1980er Jahre um die Menschenrechte verdient gemacht haben und denen Mandelas Vision einer neuen Nation eine gleichberechtigte soziale und gesellschaftliche Teilhabe versprochen hat, müssen nun erkennen, dass ihnen weiterhin – unabhängig davon, was ihre Ausweisdokumente sagen – grundlegende Bürgerrechte vorenthalten werden. Sie werden wie »Fremde in ihrem eigenen Land« behandelt.

Die gegenwärtigen Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse sind meist technokratisch organisiert und von Experten bestimmt. Und die einstige Partei der Hoffnung, der ANC, begegnet den Ärmsten der Armen heute vor allem als verlängerter Arm des Staates, als Instrument der sozialen Kontrolle und weniger als ein Forum, das demokratische Diskussionen ermöglicht. In vielen der tausendfachen Graswurzel-Proteste der letzten Jahre, die von linken NGOs wie vom Staat häufig absichtlich falsch als »Konflikte um Infrastruktur und Dienstleistungen« bezeichnet worden sind, ging es um die Forderung, dass die lokalen Parteistrukturen und -vertreter sich dem Willen der Bewohnerschaft zu beugen haben. Die Krise der politischen Repräsentation, hervorgerufen durch eine weitreichende Entrechtung großer Bevölkerungsteile, hat ihren Ausdruck in beeindruckenden Mobilisierungen gefunden, die Menschen unterschiedlicher Herkunft – Staatsbürger/innen und Illegalisierte – zusammengeführt haben, mit dem Ziel, gemeinsam die Gesellschaft von unten zu demokratisieren. Wo aber demokratische Ansätze fehlen, kann es leicht zu reaktionären Entwicklungen kommen. Eine Möglichkeit, sich der eigenen Zugehörigkeit zu vergewissern, ist, sich gegen die »wirklichen Fremden« zu wenden.

Die Pogrome vom Mai 2008

Im Mai 2008 wurden zwei Wochen lang Menschen, die den »Eingeborenen-Test« des Mobs nicht bestanden hatten, bedroht, geschlagen, vergewaltigt, bei lebendigem Leibe zerstückelt und verbrannt und überall in Südafrika aus den Hüttensiedlungen und Stadtzentren vertrieben. Ihren Beginn nahmen die Angriffe in den Slums rund um Johannesburg, in denen die Häuser von Einwander/innen und von Angehörigen von ethnischen Minderheiten angezündet wurden. In der zweiten Woche breiteten sich die Pogrome dann auf das Stadtzentrum aus, wo es zu gewalttätigen Zusammenstößen rund um die »Central Methodist Church« kam, einem Zufluchtsort für illegalisierte Einwander/innen aus Simbabwe. Glücklicherweise gelang es ihnen, sich im Inneren der Kirche zu verbarrikadieren. Wenige Monate zuvor hatte es schon einmal einen Angriff auf das Kirchenasyl gegeben, damals von der Polizei.

Die Beamten hatten das Gebäude unter Einsatz von Hunden, Pfefferspray und Schlagstöcken gestürmt und 500 Menschen festgenommen. Kirchenvertreter/innen berichteten den Medien, dass die Bewohner/innen geschlagen und beraubt worden waren. Selbst Menschen mit gültigem Aufenthaltsstatus hatte die Polizei verhaftet.

Die Ausschreitungen dehnten sich auf Durban, Kapstadt und die kleineren Städte im Hinterland aus. In Durban war das erste Ziel eine von Nigerianer/innen betriebene Bar. Es folgten Übergriffe auf Menschen aus Ruanda und Kongo in den innerstädtischen Wohnvierteln, danach traf es Migrant/innen aus Mozambique, Simbabwe und Malawi in den Slums. In Kapstadt waren die ersten Angriffsziele somalische Ladenbetreiber/innen, die seit Jahren häufig Opfer von Mord und Totschlag sind.
Ein Teil des Mobs sang bei der Hatz auf Ausländer das Wahlkampflied Jacob Zumas »Bring My Machine Gun«. Einige der Angreifer kamen aus den Hüttensiedlungen und den Hostels für Wanderarbeiter/innen, die in enger Verbindung mit der nationalistischen Zulu-Bewegung Inkatha stehen. Einige waren einfach nur betrunkene junge Männer. Die Taktik, mit einem Sprachtest herauszufinden, ob es sich bei den Verfolgten um Südafrikaner/innen oder Flüchtlinge aus den Nachbarländern handelt, stammt von der Polizei. Hierbei werden die Menschen zum Beispiel gezwungen, den leicht archaischen Zulu-Ausdruck für Ellbogen zu nennen. Die Opfer des fremdenfeindlichen Mobs waren hauptsächlich im Ausland geborene Schwarzafrikaner/innen, mancherorts wurden auch Pakistani oder südafrikanische Minderheiten, insbesondere Angehörige der Volksgruppen Tswana, Tsonga und Venda, attackiert.

Vereinzelt war die Polizei beteiligt, anderswo gelang es Community-Organisationen, mit den Sicherheitskräften zu kooperieren und die gewalttätigen Ausschreitungen unter Kontrolle zu bringen. In der Armensiedlung Protea South in Johannesburg kam es zur erfolgreichen Selbstorganisierung der ausländischen Bewohner/innen, die zu ihrem Selbstschutz rund um die Uhr Patrouillen einsetzten.
Nach zwei Wochen gab es 62 Tote, ein Drittel von ihnen südafrikanische Staatsbürger/innen. Die Zahl der Vertriebenen wurde auf 80 000 bis 100 000 geschätzt. Ein Teil war über die Landesgrenzen geflohen, andere hatten in Kirchen, Polizeistationen und Flüchtlingslagern Zuflucht gefunden. Es folgten Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen, welche die Pogrome verurteilten und Vorwürfe an die südafrikanische Regierung richteten.

Die extreme Feindseligkeit, mit der der Post-Apartheid-Staat von Anfang an auf afrikanische Einwanderer/innen reagiert hat, ist von wissenschaftlichen Studien und Menschenrechtsorganisationen ausführlich dokumentiert (vgl. u.a. Neocosmos 2006). Die Zuwanderer und Flüchtlinge treffen in Südafrika auf ein unnachsichtiges politisches Regime. Eine korrupte Bürokratie und Polizei nutzen häufig die Furcht der Migrant/innen vor Verhaftungen und Deportationen aus, um Geld zu erpressen.

Wiederholt wurden selbst südafrikanische Staatsbürger/innen festgenommen und in Länder abgeschoben, die sie überhaupt nicht kannten, nur weil sie bei den regelmäßig stattfindenden Kontrollen nicht ausreichend Zulu sprechen konnten, nicht die richtigen Impfmarkierungen vorzuweisen hatten oder einfach nur »zu schwarz« waren. Selbst wenn jemand eine Aufenthaltserlaubnis hat, diese jedoch gerade nicht vorzeigen kann, droht ihm die Deportation, da es in Südafrika den Ausländer/innen obliegt, jederzeit nachzuweisen, dass sie sich rechtmäßig im Land aufhalten. Diese Zustände erinnern nicht nur Migrant/innen an das berüchtigte Passsystem des Apartheidregimes, mit dem der Staat die Bewegungsfreiheit der Schwarzen einschränkte.
Aber das Problem sind nicht nur korrupte Parteistrukturen und der Staat. In Radio-Talk-Shows, beim Theaterbesuch, bei der Zeitungslektüre und selbst bei Universitätsvorlesungen zeigt sich, dass die Vorurteile und Ängste, die Weiße während der Apartheid auf schwarze Menschen projizierten, heute häufig auf die Armen im Allgemeinen und auf die Slumbewohner/innen und Einwander/innen im Besonderen übertragen werden. Dinge, die man heute nicht mehr in aller Öffentlich keit über die Schwarzen sagen kann, werden nun den in- und ausländischen Armen zugeschrieben. Auch Angehörige der schwarzen Mittelschicht beteiligen sich an dieser Hatz. Die von der alten Herrschaft geschürten Ängste und Aggressionen wurden nicht überwunden, sie haben unter der gegenwärtigen Ordnung nur neue Projektionsziele gefunden.

Abahlali baseMjondolo

Die sozialen Bewegungen in den Armenvierteln, die zentraler Teil einer neuen demokratischen Graswurzel-Militanz sind, haben sich dagegen während der Pogrome im Mai 2008 zum Teil erfolgreich gegen den aufgebrachten Mob gestellt. In den mehr als 30 Siedlungen in der Region von Durban und Pietermartizburg, in denen die Slum-Bewegung Abahlali baseMjondolo3 stark ist, kam es zu keinem einzigen Übergriff. Auch die Landlosen-Bewegung in Johannesburg und die Anti-Eviction-Campaign in Kapstadt, haben deutlich Position auf Seiten der Migrant/innen bezogen.

Die Gründung von Abahlali baseMjondolo (AbM) in Durban geht zurück auf eine Straßenblockade im »Kennedy Road Settlement« im März 2005. Kennedy Road liegt in der Nähe des Stadtzentrums und war von Räumung bedroht. In den Monaten nach der Blockade kam es zu intensiven Diskussionen mit den Bewohner/innen von weiteren zwölf Armensiedlungen an der innerstädtischen Peripherie, die sich schließlich zu einer »Bewegung der Armen für die Armen« zusammenschlossen.

Am Gründungsprozess von AbM war keine NGO oder politische Organisation beteiligt, es gab keine Unterstützung durch auswärtige Spender. AbM greift auf traditionelle Vorstellungen von der Würde jedes Menschen zurück und hat diese den kosmopolitischen Verhältnissen in den Städten angepasst. Von Beginn an zeichnete sich die Bewegung durch einen besonders fürsorglichen Umgang der Mitglieder untereinander aus sowie durch eine zutiefst demokratische politische Kultur, wie sie in vielen Kirchengemeinden üblich ist. Es handelte sich im Sinne des brasilianischen Stadt- und Bewegungsforschers Marcelo Lopes de Souza (2000) um ein wahrhaft autonomes politisches Projekt.

In den ersten Jahren reagierten die staatlichen Stellen auf diese Organisierung von unten vor allem mit offener Repression. Sie weigerten sich, AbM als legitime Interessenvertretung der Siedlungsbewohner/innen anzuerkennen. Die Polizei behandelte die Hüttensiedlungen, die sich der Bewegung angeschlossen hatten, als »regimekritische Territorien«. Als die Spannungen zunahmen, wurden einige von ihnen zeitweise vom Militär besetzt. Im September 2007 griff die Polizei eine genehmigte und friedliche Demonstration von AbM zum Büro des Bürgermeisters von Durban brutal an. Weitere Protestaktionen von AbM wurden verboten, bekannte Mitglieder verloren ihre Arbeit. Zwischen Oktober 2005 und September 2007 gab es mehr als 200 Verhaftungen und zahlreiche weitere Polizeischikanen. So wurden Vertreter/innen von AbM mit Gewalt daran gehindert, Einladungen zu Radio- und Fernsehauftritten oder zu Gesprächen mit Politikern wahrzunehmen. Während dieser Phase der unmittelbaren Repression warfen staatliche Stellen der Bewegung vor, sie sei Teil einer politischen Verschwörung zur Destabilisierung des Landes.

Trotz aller Schwierigkeiten konnte die Bewegung in den ersten beiden Jahren ihrer Existenz viel erreichen. Sie gründete die University of Abahlali baseMjondolo, einer Art Volksuniversität mit basisdemokratischen Strukturen. Nach ausführlichen Diskussionen beschloss AbM, sich nicht auf Parteipolitik einzulassen und nur mit solchen NGOs zusammenzuarbeiten, die bereit waren, die Unabhängigkeit der Bewegung anzuerkennen. Zudem baute sie ihre Verbindungen zu den Kirchen aus. »Redet mit uns, nicht für uns« avancierte zum zentralen Motto von AbM. Während dieser Zeit, in der die Bewegung immer größer wurde, gelang es ihr, einen bemerkenswerten Einfl uss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Die Bewohner/innen der Armensiedlungen, die nach dem Ende der Apartheid keine politische Rolle gespielt hatten, betraten nun die Bühne der nationalen Politik als selbstbewusste Akteure, die jenseits der Kontrolle von Parteien und NGOs für ihre eigenen Interessen eintraten. Auch in praktischer Hinsicht war AbM erfolgreich. In den Siedlungen, in denen die Bewegung stark präsent war, konnten Räumungen verhindert werden. Vielerorts konnten die Siedlungen sogar ausgebaut und der Zugang zu öffentlicher Infrastruktur erkämpft werden. Es entstanden Kinderkrippen und andere soziale Einrichtungen. Tausende Bewohner/innen wurden zum Teil illegal an das Stromnetz angeschlossen oder erhielten Zugang zu Wasser. Man wehrte sich gegen die ständige Polizeirepression, und dort, wo es gelang, demokratische Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen, konnte sogar die Macht der lokalen Parteieliten gebrochen werden, die sonst jeglichen politischen Dissens mit dem Entzug von Sozialleistungen bestrafen. So entstand eine breite Graswurzelbewegung für das Recht auf urbanen Wohnraum und Land, die weit über Durban hinaus bekannt wurde.

AbM organisierte große Versammlungen und Kampagnen, an denen sich auchNGOs, Akademiker/innen und Rechtsanwält/innen beteiligten, auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und auf dem Terrain, auf dem die Bewegung stark ist. Dies stand im Gegensatz zu vorangegangenen Formen der Zusammenarbeit, bei denen sich NGOs regelmäßig anmaßten, die Führungsrolle einzunehmen und von außen über die Zielsetzung der Kämpfe zu bestimmen. Die erste Kampagne dieser neuen Art richtete sich gegen den »Slum Act«, der zuerst 2007 in der Provinz KwaZulu-Natal verabschiedet worden war und als Vorbild für ähnliche Gesetze in anderen Landesregionen dienen sollte. Der »Slum Act« sieht im Kern eine Kriminalisierung aller Landbesetzungen, des Widerstands gegen Räumungen und der Selbstorganisierung von Slumbewohner/innen vor. Nach langjährigen Kämpfen hat AbM im Oktober 2009 einen richtungsweisenden Sieg errungen: Der Verfassungsrat entschied, dass der »Slum Act« verfassungswidrig ist und gegen geltendes Recht verstößt, das den Staat u.a. dazu verpfl ichtet, adäquaten Wohnraum bereitzustellen. Zudem wurdenAbM als die legitime Interessenvertretung von 14 Siedlungen in Durban anerkannt, was erstmals Verhandlungen mit der Stadtverwaltung ermöglichte. Einige der Hüttensiedlungen konnten so legal ausgebaut und modernisiert werden.

Inzwischen ist die Situation jedoch erneut eskaliert. Im Jahr 2010 kam es allein in der Siedlung Kennedy Road zu fünf Bränden. Am 3. Juli 2010 starben drei Menschen, 500 Hütten brannten ab und hinterließen 3 000 Obdachlose. AbM machte die Stadtverwaltung für diese Katastrophe verantwortlich, weil sie ihre Versprechungen gebrochen hatte, die Siedlung an das Stromnetz anzuschließen. Unterdessen beschäftigt ein weiterer Vorfall die Gerichte. Im September 2009 hatten mutmaßliche Anhänger des ANC mit Gewehren und Messern bewaffnet die Siedlung überfallen und das Hauptquartier von AbM zerstört. Dabei waren vier Menschen unter den Augen der Polizei getötet sowie zwölf Personen aus der Bewegung und ihrem Umfeld verhaftet und des Mordes beschuldigt worden. Der gewählte Vorsitzende von AbM, S’bu Zikode, lebt seitdem im Untergrund. Im Juli 2010 begann der Gerichtsprozess, wurde jedoch aufgrund der Abwesenheit der Angeklagten und wichtiger Zeugen auf Ende November vertagt (Pressemitteilung von AbM, 12.7.2010). Dieser gezielte Angriff steht stellvertretend für den Versuch, alle autonomen Graswurzelbewegungen der Slumbewohner/innen einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Dass der ANC ein Interesse daran hat, hängt nicht zuletzt mit der Strategie von AbM und anderen Bewohnervertretungen zusammen, die lokalen Wahlen zu boykottieren, nach dem Motto »no house, no land, no vote«.

Die Erfahrungen von AbM zeigen, dass der Wille, sich zu wehren, nicht notwendig mit dem Ausmaß materieller Entbehrung oder staatlicher Repressionen und Drohungen zusammenhängt. Vielmehr basieren solche Kämpfe immer auch auf kulturellen und intellektuellen Leistungen. Dementsprechend sind Orte und Praxen von grundlegender Bedeutung, in denen der benötigte Mut und die Ausdauer gefördert werden.
Um aus den unterschiedlichen Menschen und Lebenserfahrungen eine Gemeinschaft und eine kämpferische Bewegung zu formen, bedarf es eines hybriden Neuen, das aus den Fäden des Alten zusammengewoben werden muss. Formale Treffen und Strukturen sind wichtig für die Reflexion der gemachten Erfahrungen und die Entwicklung neuer Ideen. Zudem kommt es darauf an, eine gewisse Unabhängigkeit von staatlichen Instanzen, Parteistrukturen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu schaffen. Eine Bewegung muss zuvorderst den Menschen gegenüber Rechenschaft ablegen und verantwortlich sein, in deren Namen sie sich gegründet hat und spricht.Darüber hinaus sind gemeinsame Essen und Gottesdienste, das Zusammenkommen, um sich Geschichten zu erzählen, Musik zu hören oder um Angehörige zu Grabe zu tragen, enorm wichtig, um Bindungen und den Willen zum kollektiven Kampf zu stärken. Die Vorstellung, Politik im Slum sei immer dann progressiv, wenn Bündnisse mit bürgerlichen Kreisen geschlossen werden, übersieht die vielfältigen Herrschaftsbeziehungen auf der Mikroebene. Auch das bloße Verlangen nach einem besseren Leben reicht für eine emanzipatorische Bewegung nicht aus. Eine wirklich radikale Politik entsteht nur dann, wenn sich Menschen einer Gemeinschaft verpflichten, die sich über politische und materielle Gemeingüter (commons) definiert. Das zentrale politische Prinzip muss sein, dass es auf jedes Mitglied ankommt.

Der demokratische Kampf ist eine Schulung, in der es darum geht, Einfluss und Spielräume auszuweiten und Gelegenheiten zum Austausch für möglichst viele Menschen zu schaffen. Dies entscheidet über den Erfolg einer Bewegung und nicht, ob es einigen Vertreter/innen gelingt, sich den Jargon der Mittelschicht-Linken anzueignen, indem sie an NGO-Workshops auf der anderen Seite des Stacheldrahts teilnehmen. Am Ende dient dieser Jargon nicht dazu, die Menschen zu befähige und die Bewegungen zu stärken, denn gegenüber den lokalen Herrschafts- und Machtverhältnissen ist er blind. Die politische Analyse zahlreicher NGOs und linker Organisationen leidet häufig darunter, dass sie zwar in der Lage sind, nationale und internationale Konflikte zu reflektieren, diese aber nicht mit lokalen Auseinandersetzungen in Verbindung setzen können.

Die Erfahrung von AbM ist, dass für die meisten Slumbewohner/innen der Kampf mit konkreten Erfahrungen und Forderungen beginnt. Es geht um Toiletten, um den Bau einer Schule oder eines Kindergartens, um ein bestimmtes Stück Land, um Räumungen, um absichtlich gelegte Feuer, um Wasserleitungen, um einen besonders skrupellosen Slum-Lord, Politiker oder Polizeichef, um das gebrochene Versprechen eines Investors oder ein konkretes Verbrechen wie den Mord an einem Angehörigen.

Da der Kampf auf der lokalen Ebene beginnt, stehen auch das unmittelbar Materielle und seine Gewalt im Vordergrund – Körper, Lieder und Steine gegen kreisende Hubschrauber, Tränengas und Polizeimunition. Die Auseinandersetzung ist real von Anfang an. Und wenn die Bewegung im Laufe des Kampfes demokratisch und offen bleibt gegenüber den Bedürfnissen und Forderungen der Basis, dann bleibt sie real. S’Bu Zikode hat es einmal so formuliert: Was wir brauchen, ist eine »Politik der Armen, eine selbst erfundene Politik, die jeder verstehen kann und in der sich jeder wiederfindet«.
Aus dem Englischen von Britta Grell

Literatur

Fanon, Frantz, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M 1981
Davis, Mike, »Planet of Slums«, in: New Left Review 26, 2004, 5-34, www.newleftreview.org
ders., »Turning a Planet into a Slum«, Interview mit Mike Davis, www.tomdispatch.com,
9.5.2006
ders., Planet der Slums, Berlin-Hamburg 2007
Lopes de Souza, Marcelo, »Urban Development on the Basis of Autonomy: A Politicophilosophical
and Ethical Framework for Urban Planning and Management«, in: Ethics, Place
and Environment, 3. Jg., 2000, H. 2, 187-201
Neocosmos, Michael, From ›Foreign Natives‹ to ›Native Foreigners‹: Explaining Xenophobia
in Post-Apartheid South Africa, Dakar 2006
Neuwirth, Robert, Shadow Cities: A Billion Squatters, a New Urban World, New York 2005
Perlman, Janice, The Myth of Marginality: Urban Poverty and Politics in Rio de Janeiro,
Berkeley 1976
Wacquant, Loïc, Urban Outcasts, London 2008
Žižek, Slavoj, »Knee Deep«, in: London Review of Books, 26. Jg., 2004, H. 17, 12f, www.lrb.
co.uk
ders., In Defense of Lost Causes, London 2008
1Dieser Text ist die Synthese und Aktualisierung zweier auf Englisch veröffentlichter Beiträge: „Thinking Resistance in the Shanty Town“ (Mute Magazine, 25.08.2006 und „The May Pogroms: Xenophobia, Evictions, Liberalism, and Democratic Grassroots Militancy in South Africa“ (Sanhati, 16.06.2008).
2Es darf nicht vergessen werden, dass die Verweigerung des „Rechts auf Stadt“ zentraler Bestandteil der rassistischen Politik des Apartheidsregimes war, mit der schwarze Afrikaner/innen ihres staatsbürgerlichen Status beraubt wurden.
3Der Ausdruck Abahlali baseMjondolo bedeutet in Zulu „Menschen, die in Slums wohnen“.

GEKLAUT AUS : 'DAS ARGUMENT' NR.: 289 52. Jahrgang Heft 6/2010