Thursday 19 December 2013

Nelson Mandela: Der Übergang

Richard Pithouse, Akkrise

Der Tod ist immer in der Nähe, und wichtig ist nicht zu wissen, ob du ihm entkommen kannst, sondern zu wissen, dass du alles getan hast, was möglich war, um deine Ideen zu verwirklichen. – Frantz Fanon, 1961

Als ein Junge ohne eigenen Vater und aufgewachsen als Mündel des Thembu-Regenten Jongintaba Dalindyebo in seinem Great Place von Mqekezweni in den grünen Hügeln der Transkei hörte Rolihlahla Mandela Geschichten über Menschen wie Nongqawuse und Makana, Menschen, die in die Gefilde der Mythen übergegangen waren. Als er 1934 die letzten Reste seiner Kindheit im Mbashe-Fluss abwusch, konnte er nicht ahnen, dass er in seinem Leben ebenfalls in die Mythen eingehen würde.

Als er 1942 von Johannesburg nach Mqekezweni zurückkehrte, um den verstorbenen Dalindyebo zu ehren, ging ihm ein Sprichwort nicht aus dem Kopf: Ndivelimilambo enamagama – ich habe berühmte Flüsse überquert.1 Als er 1964 seine berühmte Rede von der Angeklagtenbank aus sprach2, hatten sein Name und der strahlende Schnittpunkt seiner Courage und seiner Ideale die Ozeane überquert und die große Bühne der umfassenden Geschichte betreten.

1986 erhob sich inmitten des Ausnahmezustandes Asimbonanga, das außerordentliche Lied von Johnny Clegg3 für Mandela, über das Blut und das Tränengas in den Straßen, voll der Sehnsucht nach dem Tag, an dem „wir das brennende Wasser überqueren werden“. Mandela, so schien das Lied anzudeuten, würde uns über das brennende Wasser führen können.

Mandela, Mandela der Mann, war von Robben Island zurückgekehrt. Und während die Sonne am Tag seiner Rückkehr sich nicht rot färbte, und der Tod nicht erschien, um die Welt wieder zusammen zu setzen, schien die Zeit still zu stehen, als er bei seiner Rückkehr von einer Massenbewegung empfangen wurde. Es gibt Kritiken darüber, wie mit diesem schwierigen Moment umgegangen wurde. Einige von ihnen sind wichtig, einige sind bestehen aus nicht viel mehr als der billigen Weisheit späterer Einsicht, und einige sind bloß leeres Aufbrausen – die Radikalität derjenigen, für die Engagement nicht weiter reicht als zur Übernahme von Posen und die Manipulation von Wörtern. Diejenigen, die meinen, wir hätten den Krieg an Stelle von Verhandlungen wählen sollen, berücksichtigen weder die lokalen und globalen Kräfteverhältnisse zu jener Zeit, noch die Tiefe der Verbitterung, die der Krieg bringt, oder wie dessen Zerstörung sich in die Sieger hineinfrisst. Krieg ist sicherlich keine Garantie für irgendetwas – keiner der antikolonialen Kriege, die in Afrika ausgefochten wurden, führte zu Demokratie und gerechten Gesellschaften.

Wenn die Geschichte in kleinen Dosen aufgearbeitet wird, wird ihre Unordnung offenbar. Aber wenn sie in längeren Zusammenhängen aufgearbeitet wird, rückt das größere Bild in den Vordergrund. Mit diesem Blick, dem Blick, der Makana4, Nongqawuse5 und Mandela in einem erfasst, wird klar, dass das Rad der Geschichte sich 1994 drehte, und dass Mandela uns über das brennende Wasser führte.

Aber wenn das Bewusstsein über das historische Gewicht dieses Moments nicht zur Ideologie wird, die dazu dient, die anhaltende Ungerechtigkeit zu legitimieren, dann muss uns klar sein, dass wir nicht viel an den Ungerechtigkeiten geändert haben, die in den 1950er Jahren Mandelas Zorn geschliffen haben, und die im unlängst neu aufgelegten Buch No Easy Walk To Freedom elegant ausgeführt sind. Die alten Bantustans sind immer noch separierte Räume, die Minenindustrie beutet immer noch aus, die Bildungsmöglichkeiten bleiben ungleich, das Land ist nicht an das Volk zurück gegeben worden, und Millionen leben immer noch in Baracken. Wir sind sehr weit entfernt von der “revolutionären Demokratie, … in es keine Armut, Entbehrung und Unsicherheit mehr geben soll”, die Mandela in seiner Rede 1964 von der Angeklagtenbank aus beschwor. Trotzdem hat uns der Übergang von der Apartheid zur Demokratie zu Bürger_innen eines Gemeinwesens gemacht und uns die Freiheit gegeben, selbst die Richtung zu wählen. Es liegt an uns, diesen Moment zu ergreifen.

Der African National Congress verkörperte für eine lange Zeit die Hoffnungen von so vielen. Aber im Exil stürzte er in eine ernsthafte moralische und politische Krise. Es waren der große Strom der Hoffnung des Volkes, begründet auf Massenaktionen und der politischen Stärke von COSATU6 und der United Democratic Front7, und die messianische Aura um Mandela, die uns in die Demokratie geführt haben und die deren erste Tage mit strahlendem Licht erfüllt haben. Heute ist der ANC korrupt und brutal – seine emanzipatorischen Energien wurden verschleudert, und wenn die Führer_innen der Partei – selbst in gutem Glauben – an seine großartigen Momente und die Größe seiner politischen Vision erinnern, dann dient das ausnahmslos eher dazu, die armselige Realität seiner Degeneration zu legitimieren, denn eine Erneuerung voranzutreiben.

In seinem Tod könnte es zuweilen einfacher werden, sich an Mandela, wie er es immer wollte, eher als an einen Menschen zu erinnern denn an einen Heiligen. Aber wenn Mandela vom Mythos in die Geschichte zurückkehrt, dann sollten wir keinesfalls inmitten der menschlichen Details seines Lebens, wie er es tatsächlich erlebte, oder des Morasts, in dem der ANC versunken ist, die Prinzipien vergessen, für die er stand. Wir sollten nicht die klare Kraft der Idee von Nelson Mandela vergessen.

Mandela war ein Revolutionär, der darauf vorbereitet war zu kämpfen und Gefängnis oder den Tod für seine Ideale zu riskieren- rationale und menschliche Ideale. In dieser Zeit, in der leere Posen auf Facebook oder auswendig gelernte, banale Klischees bei NGO-workshops als Militanz gezählt werden, in der Rhetorik oft frei von jeglichen ernsthaften Versuchen, zu organisieren oder tatsächlich die Konfrontation zu riskieren, dahin plätschert, in der der Mensch selten ein Maß für Politik ist, wäre es angebracht, uns an Mandela als einen Menschen zu erinnern, der Prinzipien und Aktion mit energischem Engagement zusammen brachte.

Mandela war auch ein Mensch, dessen ethische Überlegungen die seiner Unterdrücker eher überstiegen, als dass sie sie widergespiegelt hätten. Inmitten der anhaltenden Degradierung unseres politischen Diskurses hin zu noch grelleren Posen täten wir gut daran, uns zu erinnern, dass keine Radikalität der Situation gegenüber als angemessen erachtet werden kann, wenn sie zulässt, dass diese Situation ihre Visionen fesselt und ihre Konzeption von Ethik verfälscht.

Nelson Mandela ist aus dieser Welt geschieden, aber die Idee von Nelson Mandela bleibt uns. Nun ist es unsere Welt, und es gilt noch viele Flüsse zu überqueren.

Anmerkungen

1 Aus einem Zitat von Nelson Mandela: “In Xhosa sagen wir ‘ich habe berühmte Flüsse überquert’. Dieses Sprichwort kam mir in den Sinn, als ich zurück nach Johannesburg unterwegs war. Seit 1934 hatte ich alle berühmten Flüsse meines Landes überquert: den Bashee und den Kei unterwegs nach Healdtown; und den Orange und den Vaal unterwegs nach Johannesburg. Aber es lagen noch viele Flüsse vor mir, die es zu überqueren galt.”

2 Am 20. April 1964 hielt Mandela seine Schlussrede vor dem Gericht in Pretoria (das ihn anschließend zu lebenslanger Haft verurteilte). Sie begann: “Ich bin der Erstangeklagte. Ich habe einen Universitätsabschluss in Künsten und habe jahrelang gemeinsam mit meinem Freund Oliver Tambo als Anwalt in Johannesburg gearbeitet. Ich bin zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilte worden, weil ich das Land ohne Erlaubnis verlassen habe und weil ich Ende Mai 1961 Menschen zum Streik aufgerufen habe.” Sie endete: “Während meines ganzen Lebens habe ich mich dem Kampf der afrikanischen Völker gewidmet. Ich habe gegen weiße Vorherrschaft gekämpft, und ich habe gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich habe das Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft verfolgt, in der alle Menschen in Harmonie und mit gleichen Möglichkeiten zusammen leben. Es ist ein Ideal, für das ich lebe und das ich zu erreichen hoffe. Aber wenn es sein muss, ist es ein Ideal, für das ich zu sterben bereit bin.”

3 Das Lied beginnt mit dem Text “Wir haben ihn nicht gesehen dort, wo er festgehalten wird. Das Meer ist kalt und der Himmel grau. Sieh von der Insel hinüber zur Bucht. Wir sind alle Inseln, bis der Tag kommt, an dem wir das brennende Wasser überqueren.” Johnny Clegg übersiedelte mit 7 Jahren von Großbritannien erst nach Simbabwe (damals Rhodesien), danach nach Johannesburg und erlernte die Sprache Ndebele. Seit 1969 trat er gemeinsam mit Sipho Mchunu Musik in einer Mischung aus Folk und Zulu-Musik auf, wobei sie die ersten Jahre wegen der Apartheid-Gesetze nur im privaten Rahmen auftreten konnten. 1999 sang Clegg das Lied in Anwesenheit von Mandela auf der Bühne.

4 Makana ist eine Gemeinde in der Provinz Eastern Cape (Richard Pithouse lehrt an der Universität in Grahamstown, der Hauptstadt von Eastern Cape). Die Gemeinde ist benannt nach dem Xhosa-Krieger und Prophet Makana (oder Makanda), der 1819 gegen die britische Garnison in Grahamstown einen massiven Angriff leitete.

5 Nongqawuse, geboren 1840, Vollwaise, erzählte im Mai 1856 ihrem Onkel, dass sie die Geister ihrer Ahnen gesehen habe, die ihr aufgetragen hatten, dass die Xhosa ihr Getreide vernichten und ihr Vieh töten sollten, damit diese sich im Jahr darauf verdoppelten und die Geister die britischen Unterdrücker ins Meer treiben würden. Darauf töteten einige Clans ihr gesamtes Vieh (300.000 – 400.000 Stück) und verbrannten ihre Felder, aber die Prophezeiung trat nicht ein. Manche Xhosa meinten, dass es sich um eine Lüge gehandelt habe, die Nongqawuse von den Missionaren eingegeben worden war, um die Xhosa von ihnen abhängig zu machen.

6 Gewerkschafts-Dachverband


7 Die United Democratic Front war eine der wichtigsten Anti-Apartheid-Organisationen in den 1980er Jahren, eine “nicht-rassische” Koalition von rund 400 zivilgesellschaftlichen, kirchlichen, studentischen, Arbeiter_innen- und anderen Organisationen. Ihr Ziel war es, das Land unregierbar zu machen. Die Organisation berief sich auf die Freedom Charter und rief zu Mietboykotten, Protesten an den Schulen, Streiks, der Wehrdienstverweigerung von weißen Südafrikanern etc. auf. Mehrere ihrer Mitglieder wurden wegen Hochverrats verurteilt.