Als einen »Wundbrand, der sich in das
Innere der kolonialen Herrschaft frisst«,beschrieb Frantz Fanon die Menschen in
den Armensiedlungen Afrikas, die»die verschiedenen Städte in der Hoffnung,
eines Tages hineinzugelangen«,unermüdlich umkreisen (1960/1981, 110). Für ihn
bildete »diese Horde von Ausgehungerten, die aus der Stammes- und Klangemeinschaft
herausgerissen sind, [...] eine der spontansten und radikalsten unter den
revolutionären Kräften eines kolonisierten Volkes« (ebd.). Die Kolonialherren
schienen derselben Ansicht gewesen zu sein, weswegen sie diese Siedlungen meist
im Namen der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit niederreißen ließen.
Noch heute bestimmt sich die Position
einer Stadt in der globalen Rangordnung wesentlich über die Effizienz, mit der
es den Herrschenden gelingt, die Arbeiter/innen räumlich zu separieren, die
Ausbreitung von Ghettos einzudämmen, die von Graswurzelbewegungen erkämpften
Freiräume und Siedlungen zu zerstören und das unkontrollierte Eindringen von
illegalisierten Einwander/innen zu unterbinden. Von Lagos über Delphi bis nach
Johannesburg, überall stehen Enteignungen und Räumungen von Slumsiedlungen auf
der Tagesordnung. Und überall, von Portau-Prince über La Paz bis nach Durban,
wehren sich die Menschen gegen diesen Angriff. Die Hoffnung oder die Angst,
dass die Städte nicht nur als Zentralen ordnungsgemäßer Machtausübung
fungieren, sondern auch als Nährboden für sozialen Unmut und Widerstand, ist
alles andere als neu. Dem Vagabunden sowie dem Haus- und Landbesetzer kommt
hierbei seit Langem eine besondere Bedeutung zu.
In den letzten Jahren jedoch sind die
Slums zu einem planetarischen (wenn auch noch nicht universellen) Phänomen
geworden, mit dem sich sowohl Philosophen und NGOs als auch Militärplaner und
Politiker befassen. Dabei geht der Ruf nach einer von oben durchgesetzten
Ordnung von allen politischen Lagern aus. Ein Großteil der gegenwärtigen Aufmerksamkeit,
die Slums als »entscheidende geopolitische Orte« (Davis 2007) erfahren, geht
auf die Reaktivierung uralter Vorurteile gegenüber den städtischen Armen
zurück. Dabei werden – wie bereits 1972 Alejandro Portes warnte –
»soziologische oftmals mit psychologischen Realitäten verwechselt«
(zit.n.Wacquant 2008, 89). Und noch heute trifft zu, was Janice Perlman vor
mehr als 30 Jahren in ihrer Studie über Armut in Rio de Janeiro festgestellt
hat: Auch die Linke kann sich dem Mythos der Marginalität nicht entziehen
(1976, 250).
Der Blick der Metropolen-Linken
»Momentan zumindest hat Marx [in den
Slums] die historische Bühne verlassen und diese an Mohammed und den Heiligen
Geist abgetreten.« (Davis 2004, 30) Die Linke glänze dort weitgehend mit
Abwesenheit, doch diese Feststellung war oberflächlich. Zum einen ist zu
hinterfragen, ob man die Definition, was links ist, westlichen Theoretikern
überlassen will. Als Davis sein Urteil fällte, tobten in vielen Armensiedlungen
dieser Welt militante Kämpfe oder hatten dort ihren Ausgangspunkt. Zum anderen
ist Davis’ manichäische Gegenüberstellung von religiösen und politischen
Bewegungen unsinnig. Manche der an den Auseinandersetzungen Beteiligten sind
religiös, andere nicht. Viele der Bewegungen sind an sich nicht religiös
motiviert, sondern ihre Organisationsansätze wurzeln in sozialen Beziehungen
und Techniken, die Teil populärer religiöser Praktiken sind. Schließlich
resultiert Davis’ ausgeprägter Pessimismus hinsichtlich der politischen
Organisierung in den Slums aus seinem problematischen methodischen Zugang.
Anstatt direkt mit den Menschen zu reden, die diese Widerstandsbewegungen
tragen oder ihre Texte und Stellungnahmen zur Kenntnis zu nehmen, verlässt er
sich auf Quellen der Vereinten Nationen, der Weltbank, von
Spendenorganisationen oder Anthropolog/innen, die Teil des imperialen Systems
sind.
Zur gleichen Zeit, als Davis seinen
Text zu den Slums veröffentlichte, schrieb Slavoj Žižek einen Beitrag, in dem
er das explosive Wachstum der städtischen Armutssiedlungen zu
»dem vielleicht wichtigsten
geopolitischen Ereignis unserer Zeit« erklärte. Wir seien konfrontiert mit der
rapiden Zunahme einer Bevölkerung, die sich außerhalb des Rechts befindet und
dringend minimaler Formen der Selbstorganisation bedarf [...] Man sollte sich
jedoch vor der Versuchung hüten, die Slumbewohner zum neuen revolutionären
Subjekt zu erheben und zu idealisieren. Und trotzdem ist es auffällig, wie sehr
sie der alten Marxschen Definition des proletarischen revolutionären Subjekts
entsprechen: Sie sind im doppelten Sinne ›frei‹, ›freier‹ sogar als das
klassische Proletariat (›frei‹ von allen grundlegenden Bindungen; ›frei‹, weil
sie in Räumen außerhalb staatlicher Regulierung leben); sie bilden eine große
Gemeinschaft von Menschen, die aus einer Zwangslage heraus einen neuen Modus
des Zusammenlebens (er)finden müssen, weil sie ihrer traditionellen
Lebensweisen beraubt worden sind [...] Die neuen Formen des sozialen
Bewusstseins, die in diesen Slum-Gemeinschaften entstehen, sind der Keim der
Zukunft. (2004, 13)
Žižeks spekulativer und gleichzeitig
zaghafter Optimismus stützt sich auf keinerlei empirische Untersuchungen. Man
muss ihm allerdings zugestehen, dass er zumindest prinzipiell das Denken und
Handeln der Menschen in den Slums ernst nimmt. Davis’ Perspektive ist dagegen
von hobbes’schen Vorstellungen geprägt. Das materielle Grauen in den
städtischen Armenvierteln des globalen Südens, das er mit Verweis auf
zahlreiche Studien schildert, ist allgemeiner Bestandteil der Existenz von
Slumbewohner/innen. Doch ist dies nur ein Teil der Wahrheit und ihrer
Lebensrealität. Diese informellen Siedlungen sind für viele Menschen eine
wertvolle Ressource, die ihnen den Zugang zur Stadt und zu ihrer Infrastruktur,
zu Arbeit, Ausbildung, Kultur, Sport und religiösem Leben ermöglicht. Sie
können Orte eines Kosmopolitismus von unten und kultureller Innovation sein.
Und das Leben ist dort, wie anderswo auch, hauptsächlich von
Alltagsgewohnheiten geprägt: Die Menschen trinken zusammen Tee, kochen
Abendessen, spielen Fußball, feiern Kindergeburtstage, Schüler/innen erledigen
ihre Hausaufgaben oder gehen zur Chorprobe. Diese Normalität und eine gewisse
Hoffnungsfreude, die man in den Siedlungen erleben kann, stehen in einem
scharfen Kontrast zu apokalyptischen Berichten über die tragische Existenz im
Slum. Eine grundlegende Ambivalenz kennzeichnet das Leben in diesen Siedlungen:
Einerseits bedeutet die Abwesenheit des Staates Mangel an Infrastruktur und
Versorgung (Wasser, Strom, Kanalisation, Müllentsorgung etc.), andererseits
kann sie politische und kulturelle Autonomie ermöglichen.
Robert Neuwirth beschreibt diese
Ambivalenz und zeigt, dass das Leben im Slum auch eine gewisse Attraktivität
haben kann. Er zitiert Armstrong O’Brian, einen Bewohner von Southland in
Nairobi: »Dieser Ort macht abhängig. Es ist ein einfaches Leben hier, aber es
gibt niemanden, der Dich einengt und kontrolliert. Wenn man einmal hier gelebt
hat, will man immer wieder zurück« (2005, 96). Vielleicht sind es diese
Erzählungen vom Hauch der Freiheit, von denen Žižeks Optimismus inspiriert ist.
Fanon bestand noch darauf, der Slum
zeuge von der »physischen Entschlossenheit des Kolonisierten, die feindliche
Festung, koste es, was es wolle, [...] zu erobern« (1981, 111). Ein Großteil
der gegenwärtigen Literatur hingegen präsentiert die Slumbewohner/innen als tragische
Opfer der Geschichte. Auch Davis übersieht die radikale Militanz, mit der die
Siedlungen häufig gegründet und verteidigt werden. Typisch hierfür ist seine
Beschreibung von Soweto, »das sich von einem Vorort zu einer Satellitenstadt
entwickelt hat« (2006, 44). Dabei geht Davis mit keinem Wort auf die Geschichte
der Slum-Bewegung Sofasonke ein, unter deren Führung 1944 mehr als 10 000
Menschen das Land besetzten, auf dem später Soweto entstehen sollte. Neuwirth
hingegen macht deutlich, dass die meisten Siedlungen das Ergebnis von
Landaneignungen durch Graswurzelbewegungen sind, und er stellt dar, wie ihre
Bewohner/innen die Siedlungen aktiv verteidigen und ausbauen, wozu häufig der
Kampf um die Bereitstellung staatlicher Versorgungsleistungen gehört.
Die städtischen Landbesetzer/innen
fordern keine abstrakten Rechte ein, sondern nehmen sich konkrete Räume.
Neuwirth geht nicht naiv davon aus, dass Aneignungen »von unten« automatisch in
demokratische Gemeinschaften münden. Wenn verschiedene Gründe die Menschen in
die Städte drängen, und wenn der Kosmopolitismus so vieler Slums sie
unwiederbringlich von traditionellen Formen der individuellen und kollektiven
Lebensführung entfernt, dann gibt es keine Garantie dafür, dass die neu
entstehenden sozialen Beziehungen und Ordnungen einen progressiven Charakter
annehmen. So ist die indische Shiv Sena – eine hindu-nationalistische Bewegung,
die zuerst in den Slums von Mumbai groß geworden ist – nur ein Beispiel für
eine zutiefst reaktionäre Antwort auf die Anforderung, neue Formen des
Zusammenlebens entwickeln zu müssen. Menschen treffen Entscheidungen, sie
führen spezifische Kämpfe, und dementsprechend fallen die Ergebnisse auch
unterschiedlich aus, so Neuwirths nüchterne Schlussfolgerung. So werden
zahlreiche Armenviertel von »Slumlords« verschiedenster Provenienz beherrscht.
Aber dies ist keine Zwangsläufigkeit und rechtfertigt nicht Davis’ Pessimismus.
Formen von Gemeineigentum und lokale Demokratie sind ebenso möglich, und es
gibt hierfür eine Reihe positiver Beispiele.
Kämpfe in Südafrika
In Südafrika sind die städtischen
Armensiedlungen beides: Stätten progressiver und reaktionärer Strömungen. Eine
strukturelle Arbeitsmarktkrise, die gut 40 Prozent der Bevölkerung permanent
von regulärer Beschäftigung ausschließt, sowie rasant angestiegene
Lebensmittelpreise und Transportkosten haben die prekäre Lage der Armen seit
den 1990er Jahren weiter verschärft. Und obwohl die Menschen unter diesen
Umständen neue Formen der Solidarität und des kollektiven Miteinanders entwickeln,
um ihr Überleben zu sichern, hat die Verzweiflung inzwischen ein gefährliches
Ausmaß angenommen. Die Aussicht, niemals eine zum Leben ausreichende Arbeit zu
finden, ist kaum mit Gleichmut zu ertragen.
Grundrechte haben auch mit dem Zugang
zu Raum zu tun. Das offizielle Ziel, in die Klasse der »World Cities«
aufzusteigen, rechtfertigt vielerorts die Vertreibung der Armen aus den
Innenstadtvierteln und macht die seit den 1980er Jahren betriebene
Desegregation der Städte wieder rückgängig. Ein staatliches Programm sieht den
fast vollständigen Abriss zentral gelegener Hüttensiedlungen bis 2014 vor. Die
Projekte zur Modernisierung von städtischen Slums sind Ausnahmen. Indem die
Armen aus ihren Vierteln vertrieben werden, wollen sich die Regierenden eines
selbstbewussten urbanen Proletariats entledigen, das oftmals über eine gewisse
Autonomie und einen starken Gemeinschafts- und Kampfsinn verfügt.
Arbeiter/innen werden zu individualisierten Konsumenten und »Hausbesitzern« an
der urbanen Peripherie gemacht. Die Rückkehr zu gewalttätigen Vertreibungen
stellt einen direkten Angriff auf die Existenz dieser Menschen dar, auf ihr
Recht, ihre Stimme zu erheben und gehört zu werden, ihre eigene Zukunft
mitzubestimmen, auf ihren Wunsch nach städtischem Leben und auf ihre Identität
als Bürger/innen.2 Trotz eines inzwischen mehrjährigen erbitterten Kampfes der
Slumbewohner gegen Stadträte, lokale Parteivertreter und Bezirksausschüsse wird
das Thema Vertreibung von den politischen Eliten weiterhin ignoriert. Auch der
Zivilgesellschaft fällt es schwer zu begreifen, dass es beim demokratischen
Aufbau nicht nur um Wahlen und gut funktionierende NGOs geht. Viele Menschen,
die sich in den Kämpfen der 1980er Jahre um die Menschenrechte verdient gemacht
haben und denen Mandelas Vision einer neuen Nation eine gleichberechtigte
soziale und gesellschaftliche Teilhabe versprochen hat, müssen nun erkennen,
dass ihnen weiterhin – unabhängig davon, was ihre Ausweisdokumente sagen –
grundlegende Bürgerrechte vorenthalten werden. Sie werden wie »Fremde in ihrem
eigenen Land« behandelt.
Die gegenwärtigen Entwicklungs- und
Entscheidungsprozesse sind meist technokratisch organisiert und von Experten
bestimmt. Und die einstige Partei der Hoffnung, der ANC, begegnet den Ärmsten
der Armen heute vor allem als verlängerter Arm des Staates, als Instrument der
sozialen Kontrolle und weniger als ein Forum, das demokratische Diskussionen
ermöglicht. In vielen der tausendfachen Graswurzel-Proteste der letzten Jahre,
die von linken NGOs wie vom Staat häufig absichtlich falsch als »Konflikte um
Infrastruktur und Dienstleistungen« bezeichnet worden sind, ging es um die
Forderung, dass die lokalen Parteistrukturen und -vertreter sich dem Willen der
Bewohnerschaft zu beugen haben. Die Krise der politischen Repräsentation,
hervorgerufen durch eine weitreichende Entrechtung großer Bevölkerungsteile,
hat ihren Ausdruck in beeindruckenden Mobilisierungen gefunden, die Menschen
unterschiedlicher Herkunft – Staatsbürger/innen und Illegalisierte – zusammengeführt
haben, mit dem Ziel, gemeinsam die Gesellschaft von unten zu demokratisieren.
Wo aber demokratische Ansätze fehlen, kann es leicht zu reaktionären
Entwicklungen kommen. Eine Möglichkeit, sich der eigenen Zugehörigkeit zu
vergewissern, ist, sich gegen die »wirklichen Fremden« zu wenden.
Die Pogrome vom Mai 2008
Im Mai 2008 wurden zwei Wochen lang
Menschen, die den »Eingeborenen-Test« des Mobs nicht bestanden hatten, bedroht,
geschlagen, vergewaltigt, bei lebendigem Leibe zerstückelt und verbrannt und
überall in Südafrika aus den Hüttensiedlungen und Stadtzentren vertrieben.
Ihren Beginn nahmen die Angriffe in den Slums rund um Johannesburg, in denen
die Häuser von Einwander/innen und von Angehörigen von ethnischen Minderheiten
angezündet wurden. In der zweiten Woche breiteten sich die Pogrome dann auf das
Stadtzentrum aus, wo es zu gewalttätigen Zusammenstößen rund um die »Central
Methodist Church« kam, einem Zufluchtsort für illegalisierte Einwander/innen
aus Simbabwe. Glücklicherweise gelang es ihnen, sich im Inneren der Kirche zu
verbarrikadieren. Wenige Monate zuvor hatte es schon einmal einen Angriff auf
das Kirchenasyl gegeben, damals von der Polizei.
Die Beamten hatten das Gebäude unter
Einsatz von Hunden, Pfefferspray und Schlagstöcken gestürmt und 500 Menschen
festgenommen. Kirchenvertreter/innen berichteten den Medien, dass die
Bewohner/innen geschlagen und beraubt worden waren. Selbst Menschen mit
gültigem Aufenthaltsstatus hatte die Polizei verhaftet.
Die Ausschreitungen dehnten sich auf
Durban, Kapstadt und die kleineren Städte im Hinterland aus. In Durban war das
erste Ziel eine von Nigerianer/innen betriebene Bar. Es folgten Übergriffe auf
Menschen aus Ruanda und Kongo in den innerstädtischen Wohnvierteln, danach traf
es Migrant/innen aus Mozambique, Simbabwe und Malawi in den Slums. In Kapstadt
waren die ersten Angriffsziele somalische Ladenbetreiber/innen, die seit Jahren
häufig Opfer von Mord und Totschlag sind.
Ein Teil des Mobs sang bei der Hatz
auf Ausländer das Wahlkampflied Jacob Zumas »Bring My Machine Gun«. Einige der
Angreifer kamen aus den Hüttensiedlungen und den Hostels für
Wanderarbeiter/innen, die in enger Verbindung mit der nationalistischen
Zulu-Bewegung Inkatha stehen. Einige waren einfach nur betrunkene junge Männer.
Die Taktik, mit einem Sprachtest herauszufinden, ob es sich bei den Verfolgten
um Südafrikaner/innen oder Flüchtlinge aus den Nachbarländern handelt, stammt
von der Polizei. Hierbei werden die Menschen zum Beispiel gezwungen, den leicht
archaischen Zulu-Ausdruck für Ellbogen zu nennen. Die Opfer des fremdenfeindlichen
Mobs waren hauptsächlich im Ausland geborene Schwarzafrikaner/innen,
mancherorts wurden auch Pakistani oder südafrikanische Minderheiten,
insbesondere Angehörige der Volksgruppen Tswana, Tsonga und Venda, attackiert.
Vereinzelt war die Polizei beteiligt,
anderswo gelang es Community-Organisationen, mit den Sicherheitskräften zu
kooperieren und die gewalttätigen Ausschreitungen unter Kontrolle zu bringen.
In der Armensiedlung Protea South in Johannesburg kam es zur erfolgreichen
Selbstorganisierung der ausländischen Bewohner/innen, die zu ihrem Selbstschutz
rund um die Uhr Patrouillen einsetzten.
Nach zwei Wochen gab es 62 Tote, ein
Drittel von ihnen südafrikanische Staatsbürger/innen. Die Zahl der Vertriebenen
wurde auf 80 000 bis 100 000 geschätzt. Ein Teil war über die Landesgrenzen
geflohen, andere hatten in Kirchen, Polizeistationen und Flüchtlingslagern
Zuflucht gefunden. Es folgten Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen,
welche die Pogrome verurteilten und Vorwürfe an die südafrikanische Regierung
richteten.
Die extreme Feindseligkeit, mit der
der Post-Apartheid-Staat von Anfang an auf afrikanische Einwanderer/innen
reagiert hat, ist von wissenschaftlichen Studien und
Menschenrechtsorganisationen ausführlich dokumentiert (vgl. u.a. Neocosmos
2006). Die Zuwanderer und Flüchtlinge treffen in Südafrika auf ein
unnachsichtiges politisches Regime. Eine korrupte Bürokratie und Polizei nutzen
häufig die Furcht der Migrant/innen vor Verhaftungen und Deportationen aus, um
Geld zu erpressen.
Wiederholt wurden selbst
südafrikanische Staatsbürger/innen festgenommen und in Länder abgeschoben, die
sie überhaupt nicht kannten, nur weil sie bei den regelmäßig stattfindenden
Kontrollen nicht ausreichend Zulu sprechen konnten, nicht die richtigen Impfmarkierungen
vorzuweisen hatten oder einfach nur »zu schwarz« waren. Selbst wenn jemand eine
Aufenthaltserlaubnis hat, diese jedoch gerade nicht vorzeigen kann, droht ihm
die Deportation, da es in Südafrika den Ausländer/innen obliegt, jederzeit
nachzuweisen, dass sie sich rechtmäßig im Land aufhalten. Diese Zustände
erinnern nicht nur Migrant/innen an das berüchtigte Passsystem des
Apartheidregimes, mit dem der Staat die Bewegungsfreiheit der Schwarzen
einschränkte.
Aber das Problem sind nicht nur
korrupte Parteistrukturen und der Staat. In Radio-Talk-Shows, beim
Theaterbesuch, bei der Zeitungslektüre und selbst bei Universitätsvorlesungen
zeigt sich, dass die Vorurteile und Ängste, die Weiße während der Apartheid auf
schwarze Menschen projizierten, heute häufig auf die Armen im Allgemeinen und
auf die Slumbewohner/innen und Einwander/innen im Besonderen übertragen werden.
Dinge, die man heute nicht mehr in aller Öffentlich keit über die Schwarzen
sagen kann, werden nun den in- und ausländischen Armen zugeschrieben. Auch
Angehörige der schwarzen Mittelschicht beteiligen sich an dieser Hatz. Die von
der alten Herrschaft geschürten Ängste und Aggressionen wurden nicht
überwunden, sie haben unter der gegenwärtigen Ordnung nur neue Projektionsziele
gefunden.
Abahlali baseMjondolo
Die sozialen Bewegungen in den
Armenvierteln, die zentraler Teil einer neuen demokratischen
Graswurzel-Militanz sind, haben sich dagegen während der Pogrome im Mai 2008
zum Teil erfolgreich gegen den aufgebrachten Mob gestellt. In den mehr als 30
Siedlungen in der Region von Durban und Pietermartizburg, in denen die
Slum-Bewegung Abahlali baseMjondolo3 stark ist, kam es zu keinem einzigen
Übergriff. Auch die Landlosen-Bewegung in Johannesburg und die
Anti-Eviction-Campaign in Kapstadt, haben deutlich Position auf Seiten der
Migrant/innen bezogen.
Die Gründung von Abahlali baseMjondolo
(AbM) in Durban geht zurück auf eine Straßenblockade im »Kennedy Road
Settlement« im März 2005. Kennedy Road liegt in der Nähe des Stadtzentrums und
war von Räumung bedroht. In den Monaten nach der Blockade kam es zu intensiven
Diskussionen mit den Bewohner/innen von weiteren zwölf Armensiedlungen an der
innerstädtischen Peripherie, die sich schließlich zu einer »Bewegung der Armen
für die Armen« zusammenschlossen.
Am Gründungsprozess von AbM war keine
NGO oder politische Organisation beteiligt, es gab keine Unterstützung durch
auswärtige Spender. AbM greift auf traditionelle Vorstellungen von der Würde
jedes Menschen zurück und hat diese den kosmopolitischen Verhältnissen in den
Städten angepasst. Von Beginn an zeichnete sich die Bewegung durch einen
besonders fürsorglichen Umgang der Mitglieder untereinander aus sowie durch
eine zutiefst demokratische politische Kultur, wie sie in vielen Kirchengemeinden
üblich ist. Es handelte sich im Sinne des brasilianischen Stadt- und
Bewegungsforschers Marcelo Lopes de Souza (2000) um ein wahrhaft autonomes
politisches Projekt.
In den ersten Jahren reagierten die
staatlichen Stellen auf diese Organisierung von unten vor allem mit offener
Repression. Sie weigerten sich, AbM als legitime Interessenvertretung der
Siedlungsbewohner/innen anzuerkennen. Die Polizei behandelte die
Hüttensiedlungen, die sich der Bewegung angeschlossen hatten, als
»regimekritische Territorien«. Als die Spannungen zunahmen, wurden einige von
ihnen zeitweise vom Militär besetzt. Im September 2007 griff die Polizei eine
genehmigte und friedliche Demonstration von AbM zum Büro des Bürgermeisters von
Durban brutal an. Weitere Protestaktionen von AbM wurden verboten, bekannte
Mitglieder verloren ihre Arbeit. Zwischen Oktober 2005 und September 2007 gab
es mehr als 200 Verhaftungen und zahlreiche weitere Polizeischikanen. So wurden
Vertreter/innen von AbM mit Gewalt daran gehindert, Einladungen zu Radio- und
Fernsehauftritten oder zu Gesprächen mit Politikern wahrzunehmen. Während
dieser Phase der unmittelbaren Repression warfen staatliche Stellen der
Bewegung vor, sie sei Teil einer politischen Verschwörung zur Destabilisierung
des Landes.
Trotz aller Schwierigkeiten konnte die
Bewegung in den ersten beiden Jahren ihrer Existenz viel erreichen. Sie
gründete die University of Abahlali baseMjondolo, einer Art Volksuniversität
mit basisdemokratischen Strukturen. Nach ausführlichen Diskussionen beschloss
AbM, sich nicht auf Parteipolitik einzulassen und nur mit solchen NGOs
zusammenzuarbeiten, die bereit waren, die Unabhängigkeit der Bewegung
anzuerkennen. Zudem baute sie ihre Verbindungen zu den Kirchen aus. »Redet mit
uns, nicht für uns« avancierte zum zentralen Motto von AbM. Während dieser
Zeit, in der die Bewegung immer größer wurde, gelang es ihr, einen
bemerkenswerten Einfl uss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Die
Bewohner/innen der Armensiedlungen, die nach dem Ende der Apartheid keine
politische Rolle gespielt hatten, betraten nun die Bühne der nationalen Politik
als selbstbewusste Akteure, die jenseits der Kontrolle von Parteien und NGOs
für ihre eigenen Interessen eintraten. Auch in praktischer Hinsicht war AbM
erfolgreich. In den Siedlungen, in denen die Bewegung stark präsent war,
konnten Räumungen verhindert werden. Vielerorts konnten die Siedlungen sogar
ausgebaut und der Zugang zu öffentlicher Infrastruktur erkämpft werden. Es
entstanden Kinderkrippen und andere soziale Einrichtungen. Tausende
Bewohner/innen wurden zum Teil illegal an das Stromnetz angeschlossen oder
erhielten Zugang zu Wasser. Man wehrte sich gegen die ständige
Polizeirepression, und dort, wo es gelang, demokratische
Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen, konnte sogar die Macht der lokalen
Parteieliten gebrochen werden, die sonst jeglichen politischen Dissens mit dem
Entzug von Sozialleistungen bestrafen. So entstand eine breite
Graswurzelbewegung für das Recht auf urbanen Wohnraum und Land, die weit über Durban
hinaus bekannt wurde.
AbM organisierte große Versammlungen
und Kampagnen, an denen sich auchNGOs, Akademiker/innen und Rechtsanwält/innen
beteiligten, auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und auf dem Terrain, auf
dem die Bewegung stark ist. Dies stand im Gegensatz zu vorangegangenen Formen
der Zusammenarbeit, bei denen sich NGOs regelmäßig anmaßten, die Führungsrolle
einzunehmen und von außen über die Zielsetzung der Kämpfe zu bestimmen. Die
erste Kampagne dieser neuen Art richtete sich gegen den »Slum Act«, der zuerst
2007 in der Provinz KwaZulu-Natal verabschiedet worden war und als Vorbild für
ähnliche Gesetze in anderen Landesregionen dienen sollte. Der »Slum Act« sieht
im Kern eine Kriminalisierung aller Landbesetzungen, des Widerstands gegen
Räumungen und der Selbstorganisierung von Slumbewohner/innen vor. Nach
langjährigen Kämpfen hat AbM im Oktober 2009 einen richtungsweisenden Sieg
errungen: Der Verfassungsrat entschied, dass der »Slum Act« verfassungswidrig
ist und gegen geltendes Recht verstößt, das den Staat u.a. dazu verpfl ichtet,
adäquaten Wohnraum bereitzustellen. Zudem wurdenAbM als die legitime
Interessenvertretung von 14 Siedlungen in Durban anerkannt, was erstmals
Verhandlungen mit der Stadtverwaltung ermöglichte. Einige der Hüttensiedlungen
konnten so legal ausgebaut und modernisiert werden.
Inzwischen ist die Situation jedoch
erneut eskaliert. Im Jahr 2010 kam es allein in der Siedlung Kennedy Road zu
fünf Bränden. Am 3. Juli 2010 starben drei Menschen, 500 Hütten brannten ab und
hinterließen 3 000 Obdachlose. AbM machte die Stadtverwaltung für diese
Katastrophe verantwortlich, weil sie ihre Versprechungen gebrochen hatte, die
Siedlung an das Stromnetz anzuschließen. Unterdessen beschäftigt ein weiterer
Vorfall die Gerichte. Im September 2009 hatten mutmaßliche Anhänger des ANC mit
Gewehren und Messern bewaffnet die Siedlung überfallen und das Hauptquartier
von AbM zerstört. Dabei waren vier Menschen unter den Augen der Polizei getötet
sowie zwölf Personen aus der Bewegung und ihrem Umfeld verhaftet und des Mordes
beschuldigt worden. Der gewählte Vorsitzende von AbM, S’bu Zikode, lebt seitdem
im Untergrund. Im Juli 2010 begann der Gerichtsprozess, wurde jedoch aufgrund
der Abwesenheit der Angeklagten und wichtiger Zeugen auf Ende November vertagt
(Pressemitteilung von AbM, 12.7.2010). Dieser gezielte Angriff steht
stellvertretend für den Versuch, alle autonomen Graswurzelbewegungen der
Slumbewohner/innen einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Dass der ANC ein
Interesse daran hat, hängt nicht zuletzt mit der Strategie von AbM und anderen
Bewohnervertretungen zusammen, die lokalen Wahlen zu boykottieren, nach dem
Motto »no house, no land, no vote«.
Die Erfahrungen von AbM zeigen, dass
der Wille, sich zu wehren, nicht notwendig mit dem Ausmaß materieller Entbehrung
oder staatlicher Repressionen und Drohungen zusammenhängt. Vielmehr basieren
solche Kämpfe immer auch auf kulturellen und intellektuellen Leistungen.
Dementsprechend sind Orte und Praxen von grundlegender Bedeutung, in denen der
benötigte Mut und die Ausdauer gefördert werden.
Um aus den unterschiedlichen Menschen
und Lebenserfahrungen eine Gemeinschaft und eine kämpferische Bewegung zu
formen, bedarf es eines hybriden Neuen, das aus den Fäden des Alten
zusammengewoben werden muss. Formale Treffen und Strukturen sind wichtig für
die Reflexion der gemachten Erfahrungen und die Entwicklung neuer Ideen. Zudem
kommt es darauf an, eine gewisse Unabhängigkeit von staatlichen Instanzen,
Parteistrukturen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu schaffen. Eine
Bewegung muss zuvorderst den Menschen gegenüber Rechenschaft ablegen und
verantwortlich sein, in deren Namen sie sich gegründet hat und spricht.Darüber
hinaus sind gemeinsame Essen und Gottesdienste, das Zusammenkommen, um sich
Geschichten zu erzählen, Musik zu hören oder um Angehörige zu Grabe zu tragen,
enorm wichtig, um Bindungen und den Willen zum kollektiven Kampf zu stärken.
Die Vorstellung, Politik im Slum sei immer dann progressiv, wenn Bündnisse mit
bürgerlichen Kreisen geschlossen werden, übersieht die vielfältigen
Herrschaftsbeziehungen auf der Mikroebene. Auch das bloße Verlangen nach einem
besseren Leben reicht für eine emanzipatorische Bewegung nicht aus. Eine
wirklich radikale Politik entsteht nur dann, wenn sich Menschen einer Gemeinschaft
verpflichten, die sich über politische und materielle Gemeingüter (commons)
definiert. Das zentrale politische Prinzip muss sein, dass es auf jedes
Mitglied ankommt.
Der demokratische Kampf ist eine
Schulung, in der es darum geht, Einfluss und Spielräume auszuweiten und
Gelegenheiten zum Austausch für möglichst viele Menschen zu schaffen. Dies
entscheidet über den Erfolg einer Bewegung und nicht, ob es einigen
Vertreter/innen gelingt, sich den Jargon der Mittelschicht-Linken anzueignen,
indem sie an NGO-Workshops auf der anderen Seite des Stacheldrahts teilnehmen.
Am Ende dient dieser Jargon nicht dazu, die Menschen zu befähige und die
Bewegungen zu stärken, denn gegenüber den lokalen Herrschafts- und
Machtverhältnissen ist er blind. Die politische Analyse zahlreicher NGOs und
linker Organisationen leidet häufig darunter, dass sie zwar in der Lage sind,
nationale und internationale Konflikte zu reflektieren, diese aber nicht mit
lokalen Auseinandersetzungen in Verbindung setzen können.
Die Erfahrung von AbM ist, dass für
die meisten Slumbewohner/innen der Kampf mit konkreten Erfahrungen und
Forderungen beginnt. Es geht um Toiletten, um den Bau einer Schule oder eines
Kindergartens, um ein bestimmtes Stück Land, um Räumungen, um absichtlich gelegte
Feuer, um Wasserleitungen, um einen besonders skrupellosen Slum-Lord, Politiker
oder Polizeichef, um das gebrochene Versprechen eines Investors oder ein
konkretes Verbrechen wie den Mord an einem Angehörigen.
Da der Kampf auf der lokalen Ebene
beginnt, stehen auch das unmittelbar Materielle und seine Gewalt im Vordergrund
– Körper, Lieder und Steine gegen kreisende Hubschrauber, Tränengas und
Polizeimunition. Die Auseinandersetzung ist real von Anfang an. Und wenn die
Bewegung im Laufe des Kampfes demokratisch und offen bleibt gegenüber den
Bedürfnissen und Forderungen der Basis, dann bleibt sie real. S’Bu Zikode hat
es einmal so formuliert: Was wir brauchen, ist eine »Politik der Armen, eine
selbst erfundene Politik, die jeder verstehen kann und in der sich jeder
wiederfindet«.
Aus dem Englischen von Britta Grell
Literatur
Fanon, Frantz, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M 1981
Davis, Mike, »Planet of Slums«, in: New Left Review 26, 2004, 5-34, www.newleftreview.org
ders., »Turning a Planet into a Slum«, Interview mit Mike Davis, www.tomdispatch.com,
9.5.2006
ders., Planet der Slums, Berlin-Hamburg 2007
Lopes de Souza, Marcelo, »Urban Development on the Basis of Autonomy: A Politicophilosophical
and Ethical Framework for Urban Planning and Management«, in: Ethics, Place
and Environment, 3. Jg., 2000, H. 2, 187-201
Neocosmos, Michael, From ›Foreign Natives‹ to ›Native Foreigners‹: Explaining Xenophobia
in Post-Apartheid South Africa, Dakar 2006
Neuwirth, Robert, Shadow Cities: A Billion Squatters, a New Urban World, New York 2005
Perlman, Janice, The Myth of Marginality: Urban Poverty and Politics in Rio de Janeiro,
Berkeley 1976
Wacquant, Loïc, Urban Outcasts, London 2008
Žižek, Slavoj, »Knee Deep«, in: London Review of Books, 26. Jg., 2004, H. 17, 12f, www.lrb.
co.uk
ders., In Defense of Lost Causes, London 2008
1Dieser
Text ist die Synthese und Aktualisierung zweier auf Englisch
veröffentlichter Beiträge: „Thinking Resistance in the Shanty Town“ (Mute Magazine, 25.08.2006 und „The May Pogroms: Xenophobia, Evictions, Liberalism, and Democratic Grassroots Militancy in South Africa“ (Sanhati, 16.06.2008).
2Es
darf nicht vergessen werden, dass die Verweigerung des „Rechts auf
Stadt“ zentraler Bestandteil der rassistischen Politik des
Apartheidsregimes war, mit der schwarze Afrikaner/innen ihres
staatsbürgerlichen Status beraubt wurden.
3Der Ausdruck Abahlali baseMjondolo bedeutet in Zulu „Menschen, die in Slums wohnen“.
GEKLAUT AUS : 'DAS ARGUMENT' NR.: 289 52. Jahrgang Heft 6/2010